Im verwunschenen Wald – eine Kindheitserinnerung

Im Wald, zwei kleine Baumstumpfe

Habe ich dir schon einmal davon erzählt, dass ich als Hofdame bei Prinzessin Sophie von Waldmoos gearbeitet habe? Nein? Oh, dann muss ich es dir jetzt unbedingt erzählen.

Ich war noch sehr jung. Besser gesagt, sechs Jahre alt. Meine Sandkastenfreundin und ich verbrachten die warmen Sommertage mit meinen Eltern im Schrebergarten. Da gab es immer viel zu entdecken, und neue Abenteuer warteten auf uns.

Nur ein paar Meter vom Schrebergarten entfernt war ein saftig grüner Wald. Dort gab es dunkle, kalte Ecken zu entdecken, aber auch warme, kuschelige Moosböden, die zum Verweilen einluden. Zu hören gab es auch viel: das Knacksen der Äste, das Zwitschern der Vögel, das Knabbern der Eichhörnchen, das Kriechen der Schlangen. Nur die leisen Spinnen konnte man nicht hören. Die tanzten auf ihren feinen Beinchen durch den nach Holz duftenden Wald.

Ich war immer schon ein kleiner Angsthase. Aber als Kind war die Neugierde doch größer. Und so erkundeten wir auch die feucht dunklen Ecken des Waldes. Eines Tages, es war ein warmer Sommertag mit blauem Himmel, den wir aber wegen der grünen Baumkronen fast nicht sehen konnten, erforschten wir solch einen gruseligen, finsteren Teil des Waldes. Jeder Schritt verursachte für unsere Kinderohren einen höllischen Lärm. Es knackste und raschelte unter unseren Fußsohlen.

Ja, okay, so laut war es vielleicht doch nicht. Aber in diesem Eck des Waldes war es mucks­mäuschen­still. Man hörte keine Vögel zwitschern, keine Blätter rascheln. Die Luft fühlte sich auf der Haut kühl und feucht an. Eine angenehme Abwechslung zur sommerlichen Hitze. Auch die Farben um uns herum waren nicht so leuchtend und satt wie im anderen Teil des Waldes. Einfach nur gruselig. Aber wir waren ja mutige Mädchen.

Da plötzlich stand sie vor uns. Wir wussten sofort, dass das eine ganz besondere Begegnung war. Wir hielten für einen Moment den Atem an. Konnte das wirklich sein, in diesem Teil des Waldes? Was hat sie hier verloren? Das ist doch nicht der passende Platz für sie! Und was ist nur mit ihr geschehen?

Langsam gingen wir auf sie zu. Wir schauten sie von allen Seiten an. Berührten sie vorsichtig. Sie fühlte sich warm und weich an. Sie war noch so klein. Wer hat ihr das nur angetan? Wir knieten uns erwartungsvoll vor sie nieder.

Und da merkte sie wohl, dass wir vertrauenswürdig waren. Sie sprach mit uns ganz leise und sanft. Es war fast wie ein Singen, so melodisch und klar war ihre Stimme. Prinzessin Sophie von Waldmoos ist ihr Name. Wir stehen mitten in ihrem Reich.

Eigentlich ist es ein strahlend schöner Wald, voll mit niedlichen Tieren, die jeden Tag gemeinsam ein fröhlich buntes Fest feiern. Aber eines Tages kam eine böse Hexe in ihr Reich und legte einen Fluch über diesen Teil des Waldes und verwandelte sie in einen kleinen, zarten Baumstumpf. Prinzessin Sophie von Waldmoos kann sich nicht bewegen. Sie steht hier fest verwurzelt. Grünes, feuchtes Moos wächst schon auf ihr. Kleine Spinnen und Insekten haben ihre Wohnungen auf ihr eingerichtet. Die niedlichen Waldbewohner sind verschwunden. Sie weiß nicht, was mit ihnen passiert ist.

Immer wieder sind Menschen laut durch den Wald marschiert. Niemand von ihnen hat sie entdeckt oder gar erkannt. Sie versuchte sich jedes Mal bemerkbar zu machen. Aber wie sollte man das als kleiner, unscheinbarer Baumstumpf schaffen?

Umso überraschter ist Prinzessin Sophie von Waldmoos, dass meine Freundin und ich sie entdeckt haben und ihre Schönheit erkannt haben. Sie hätte auch nie gedacht, dass sie sich noch einmal mit Menschen unterhalten kann. Sie hat oft gerufen und geschrien. Aber niemand hat sie gehört.

Wir waren ratlos. Wie könnten wir ihr nur helfen? Sollten wir uns auf die Suche nach der Hexe machen? Was, wenn diese uns auch verwandelt? Angst stieg in mir auf. Aber dann blickte ich wieder auf die Prinzessin. Wie schön sie war, mit dem Moos auf ihr und den zarten weißen Waldblumen um sie herum.

Meine Freundin und ich hatten keine Idee, wie wir der Prinzessin helfen könnten. Aber wir konnten für sie da sein. Und das wollten wir von ganzem Herzen. Wir ernannten uns selbst zu den Hofdamen von Prinzessin Sophie von Waldmoos.

Wir versuchten, sie so oft wie möglich zu besuchen. Vorsichtig machten wir uns auf den Weg. Niemand durfte uns verfolgen, schon gar nicht die böse Hexe. Bei der Prinzessin angekommen, machten wir zuerst den Platz um sie sauber, banden einen Blumenkranz für ihr Haupt und setzten uns zu ihr. Wir leisteten ihr Gesellschaft. Hörten ihr zu, sangen gemeinsam Lieder, genossen den Tag.

Die Prinzessin gehörte für uns zu diesem Wald. Eine Lösung für ihre Situation hatten wir noch immer nicht. Aber sie wurde zu unserer Freundin.

Eines Tages, es war bereits Spätsommer, die Sonne stand schon etwas niedriger, das Licht war golden, machten meine Freundin und ich uns wieder auf den Weg zur Prinzessin. Aber da war auf einmal kein Wald mehr. Schwere Baumaschinen fuhren auf dem erdigen Boden herum und machten alles zu Kleinholz. Wir wollten uns auf die Suche nach der Prinzessin machen. Sie musste doch noch irgendwo sein. Vielleicht auf irgendeinem Holzhaufen. Davon gab es hier genug. Die Männer schickten uns weg. Kinder haben hier nichts verloren. Es sei viel zu gefährlich.

Leider weiß ich bis heute nicht, was mit der Prinzessin geschehen ist. Hat sie es überlebt? Wurde sie vielleicht wieder zurückverwandelt und fand ein neues Zuhause? Oder landete sie im Winter in irgendeinem Ofen und wärmte eine kalte Stube?

In meinem Herzen gibt es diesen Platz im Wald nach wie vor. Ich sehe die Prinzessin Sophie von Waldmoos vor mir. Eine strahlende Schönheit inmitten der Dunkelheit. Fast vierzig Jahre später ist an dem Platz, an dem der Wald war, ein Baggersee umgeben von Blockhäusern. Gerne denke ich an meine Kindertage zurück und die Abenteuer, die wir in diesem Wald erlebt haben.

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