Übung macht den Meister, oder doch nicht?

Herbst 1994. Ich besuche ein für mich neues Unterrichtsfach: Textverarbeitung. Ein Raum voller elektrischer Schreibmaschinen. Immerhin ist die Schule schon so modern unterwegs. Auf dem Programm steht das Zehn-Finger-System. Bei meinen ersten Versuchen frage ich mich, wie das gehen soll. Die Finger tun nicht so, wie ich es will. Zuhause übe ich stundenlang am Computer meines Vaters. Und siehe da, von Mal zu Mal geht es besser. Heute, fast dreißig Jahre später, tippe ich manchmal schneller, als meine Gedanken sind. Ja, Übung macht den Meister (oder die Meisterin).

Aber kann man das auf alles ummünzen? Ich glaube, dass dieses Sprichwort auf vieles passt, aber nicht in allen Bereichen. Natürlich, mit Übung wird man besser, aber ob es für eine Meisterleistung reicht? Eher nicht.

Ich habe das World Wide Web nach dem Sprichwort befragt. Dem Sprichwort war wohl ein zweiter Satz vorangestellt. Laut phraseo.de „findet sich in Band 5 des Deutschen Sprichwörter-Lexikons (1880), herausgegeben von Karl Friedrich Wilhelm Wander, folgender Eintrag: Lehre bildet Geister, doch Übung macht den Meister.“

Bildung ist wichtig. Da sind wir uns wohl einig. Aber was ein einzelner daraus macht, liegt in seiner Verantwortung. Ich sage gerne, von nichts kommt nichts. Wenn ich nichts dafür tue, kann ich mir auch nicht wirklich etwas davon erwarten.

Aber gibt es auch Fälle, in denen man übt und unter dem Strich kommt nicht viel dabei heraus? Ja, das glaube ich. Da fallen mir in meinem Leben zwei Bereiche ein: Sprachen und Musik.

Wie habe ich in der Schule mit den Sprachen gekämpft. In Deutsch habe ich zu wenig gelernt. Das geht auf meine Kappe. Aber in Englisch und Italienisch habe ich viel Zeit investiert. Ich habe gerade einmal das Mittelmaß geschafft.

Musikalisch bin ich von einer Meisterin weit entfernt. Ich sage gerne, dass ich allein mehrstimmig singen kann. Im Religionsunterricht hat eine Schülerin zu mir gesagt, dass ich ruhig still sein kann, sie singen das Lied lieber allein.

Zwei Jahre lang habe ich Gitarrenunterricht genommen. Aber zur gleichen Zeit singen und an der Gitarre begleiten ging gar nicht. Da war ich völlig überfordert. Ja, okay, man kann mir vorwerfen, dass ich zu wenig geübt habe. Aber es war nur noch eine Qual für mich. Freude empfand ich dabei nicht.

Und dann hatte ich es ja auch noch schriftlich! Nach der Hauptschulzeit machte ich die Aufnahmeprüfung an der Kindergartenschule. Ich glaube, sie dauerte vier Stunden. Wir mussten vorturnen, malen, töpfern, im Team eine Aufgabestellung lösen und vorsingen. Letzteres habe ich mit meiner Mutter zuhause geübt. Aber es reichte nicht aus. Ich bekam per Post die Absage, mit der Begründung, dass ich im musikalischen Bereich durchgefallen bin. Ab da verweigerte ich das Singen. Statt der Kindergartenschule besuchte ich dann die HLW. Ich hatte dort mehrmals eine Diskussion mit der Musiklehrerin, weil sie es nicht akzeptierte, dass ich das Singen verweigerte. Aber ich zog es durch.

Erst mit 31 Jahren schaffte es eine Professorin, dass ich vor einer kleinen Gruppe (ca. fünf StudentInnen) sang. Ich machte berufsbegleitend das Studium zur evangelischen Religionslehrerin. Bei dieser Ausbildung gab es in einem Semester das Fach „musische Erziehung“ (oder wie auch immer es betitelt war). Anfangs stellte ich gleich klar, dass ich nicht singe. Sie schaffte es mit Geduld, dass ich mich dieser Blockade stellte. Es war sehr spannend. Die Professorin spielte am Klavier und ich sang irgendein Kirchenlied. Ich kann mich nicht daran erinnern, welches es war. Bei den ersten Strophen sang ich einfach, ohne dass ich viel darüber nachdachte. Plötzlich schaltete sich mein Kopf ein und ich traf gar keine Note mehr. Die Strophen vorher waren nicht perfekt gesungen, aber es passte.

Bin ich jetzt die große Sängerin? Nein, ich singe nach wie vor nicht gerne. Ich habe es auch nicht groß geübt. Im Religionsunterricht singe ich mit den Kindern, aber nur mithilfe von Liedern, die ich abspielen kann. Also auch hier fehlt es mir ein bisschen an der Freude und Motivation.

Das könnte vielleicht eine kleine Zauberformel sein: Freude und Übung. Wenn man etwas mit Freude macht, ist so einiges möglich. Ich glaube, dass der Geist dann viel offener dafür ist. Mir geht es beim Zeichnen und Malen so. Das habe ich als Kind schon gerne gemacht. Ich konnte Stunden an meinem Schreibtisch verbringen und malen. Als junge Erwachsene habe ich mir dafür keine Zeit mehr genommen. Vor drei Jahren fand ich wieder zu dieser Leidenschaft zurück. Ich mache es mit großer Freude und Hingabe. Und ja, hier gilt das Sprichwort auf jeden Fall: Übung macht den Meister. Zeichnen und Malen sind Handwerke. Diese Handwerke kann man erlernen und mit Übung beherrscht man sie von Mal zu Mal besser. Es braucht auch Ausdauer. Der Vergleich mit anderen ist nicht so gut. Man kann sich von anderen KünstlerInnen und Kreativen inspirieren lassen, aber der Vergleich könnte einen demotivieren.

Ich merke, dass die Zauberformel anwächst: Freude, Übung, Hingabe, Ausdauer.

Mein neuestes Übungsfeld ist das Schreiben. Rückblickend habe ich gemerkt, dass es mir in schlechteren Phasen, also wenn es mir psychisch nicht so gut geht, schwerfällt, zu schreiben. Zeichnen und Malen sind meistens möglich. Momentan geht es mir gut und ich verbringe viel Zeit mit dem Schreiben. Ich glaube, dass das Schreiben tiefergehender ist als das Malen. Ich muss passende Worte und Sätze finden. Es konkretisiert, was aus mir herauswill. Vielleicht ist beides zusammen eine gute Kombination. Ein Artjournal als Tagebuch, in dem gemalt und geschrieben wird.

Ich lasse mich überraschen, was noch alles entstehen darf. Auf jeden Fall hoffe ich, dass mein Schreiben durch die Übung besser wird, denn Übung macht die Meisterin!

Eine kleine Anmerkung zu dem Text

Dieser Text ist im Zuge eines Kurses bei Barbara Pachl-Eberhart entstanden. Marita Eckmann und ich haben unabhängig voneinander zu diesem Thema geschrieben. Ich musste so lachen, als ich den Essay von Marita gelesen habe. Auch sie stieg mit dem Erlernen des 10-Finger-Systems ein. Lies gerne auf ihrem Blog nach, wie es bei ihrem Text weitergeht.

Danke, liebe Marita, dass du mich dazu ermutigt hast, den Text ebenfalls auf meinem Blog zu veröffentlichen, und danke auch für unseren wunderbaren Austausch!

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4 Responses

  1. Da ist er ja endlich! Ich habe Dein Essay sehnsüchtig erwartet und finde es toll! So viele Einblicke in Dein Leben. Also was das Singen angeht, da gehöre ich auch zu den Unbegabten weil ich null Übung habe und mir – vermutlich durch die falsche Atemtechnik, zu schnell die Luft aus geht. Die Singstimme hat in unserer Familie Johannes 😉

    Ich bin ganz Deiner Meinung: Freude und Übung. Damit ist fast alles zu schaffen. Selbst das blödeste Thema kann man schaffen, wenn man es mit etwas kombiniert, was Freude macht. So habe ich mein Englisch aufgebessert. Ein Thema, das für mir war, wie das Singen bei Dir. Aber ich habe die Hürde genommen und bin inzwischen heilfroh darüber.

    Danke, fürs Teilen, liebe Daniela. Es war mir ein Vergnügen 🙂
    Marita

  2. Astrid sagt:

    Liebe Daniela,
    ich bin auch keine gute Sängerin, obwohl ich ein absolutes Gehör habe und – rein theoretisch – die Töne gut treffen würde. Aber meine Stimme ist ungeübt und ich habe auch keinen Spaß daran. Allerdings frage ich mich gerade, ob ich Spaß daran finden würde, wenn ich es öfter probieren würde.
    Bis zur Corona-Pandemie gab es in Rostock in einem Club das Sing-Projekt „Rosi“, das steht für „Rostock singt“. Gestaltet wurde der Abend von einer Band, die Songs zum Mitsingen aufbereitete. Ähnlich wie bei Karaoke wurden im Hintergrund die Texte eingeblendet und das Publikum sang mit.
    Das machte riesigen Spaß und sogar Hannes ließ sich zum Mitsingen bewegen – was ihn wohl selbst am allermeisten verwundert hatte …
    In so einem Rahmen hättest du vielleicht auch Spaß am Singen gefunden. Wo wir wieder beim Thema Spaß und Freude sind.
    Ich denke, es ist wie beim Sport. Anfangs macht es nicht so viel Spaß, wenn man dabeibleibt, ändert sich das. Dann kommt eben noch die Übung hinzu und damit erste Erfolgserlebnisse.
    Liebe Grüße
    Astrid

    • Daniela sagt:

      Liebe Astrid!
      Vielen lieben Dank für deinen Kommentar!
      Oh, das Projekt Rosi klingt nach Spaß. Ja, ich glaube, das hätte mir auch gefallen.
      Beim Lesen deines Kommentars kommt bei mir der Gedanke auf, dass es wohl auch mit Gewohnheit zu tun hat. Wie du schreibst, regelmäßig Sport zu machen benötigt zu Beginn Überwindungskraft, aber wenn man es einmal gewohnt ist, kann man fast nicht mehr ohne. Danke, dass du meine Gedanken erneut angeregt hast.
      Liebe Grüße
      Dani

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